China will seine Justiz reformieren

Wenn zwei Unternehmen, die z.B. wegen einer Schuldenfrage einen Prozess führen wollen, an zwei verschiedenen Orten ansässig sind, streiten sie oft darüber, wo die Gerichtsverhandlung stattfinden soll. Denn verschiedene Gerichte und Richter, die denselben Rechtsfall verhandeln, fällen in China oft ganz verschiedene Urteile. Derartige Auseinandersetzungen werden in China als ein ganz normales Phänomen bei der Lösung eines Disputs betrachtet. Der Streit kann über ein Jahr dauern, bevor der Fall endlich vor Gericht verhandelt wird.

He Weifang, Professor des Instituts für Jura der Peking-Universität, bezeichnet dieses Phänomen als "Bewusstsein für den Heimvorteil".

In China sind die Justizorgane je nach der administrativen Gliederung eingerichtet und unterstehen besonders hinsichtlich der Personal- und Finanzangelegenheiten der Verwaltung der Regierung des Gebietes, wo sie sich befinden. Sie sind also nicht unabhängig. In der Folge haben viele Gebiete Sonderbestimmungen über lokale rechtliche Angelegenheiten ausgearbeitet. Beispielsweise müssen als schwerwiegend eingeschätzte Fälle unter der Anleitung des lokalen Parteikomitees verhandelt werden, und die Ermittlungen bei von Beamten begangenen Verbrechen müssen von einer bestimmten Ebene aufwärts mit Genehmigung lokaler Führer durchgeführt werden. Als Grund für derartige Bestimmungen geben einige lokale Regierungen an, dass sie dadurch die Stabilität ihrer Gebiete und die Entwicklung der lokalen Wirtschaft aufrechterhalten wollten.

Xiao Yang, Präsident des Obersten Volksgerichtshofes, zufolge liegen die Mängel des gegenwärtigen Rechtssystems in der Einmischung von administrativen Organen in die Gerichtsverhandlungen, den niedrigen Anforderungen an die Qualifikation der Richter und der Lokalisierung der Justizhoheit. Professor He hebt hervor: "Ich glaube, dass all diese Probleme mit dem Mangel an einem unabhängigen Rechtssystem verbunden sind". Er betont, dass es notwendig sei, das Personal- und Finanzsystem der Justizorgane zu reformieren, um diese von der administrativen Intervention zu befreien und dadurch eine rechtliche Fairness zu realisieren.

China hat im Jahr 1997 die "Verwaltung des Landes durch das Gesetz" als grundlegende Staatspolitik festgelegt und die Reform der Justiz vorangetrieben. In den folgenden vier Jahren wurde eine Reihe von Maßnahmen in diesem Bereich ergriffen. Aber diese Reformmaßnahmen konnten nur einzelne Probleme lösen. Ein einheitlicher und klarer Reformplan fehlte.

Um dieses Problem zu lösen, hat Professor He vorgeschlagen, die Reform der Justiz als einen wichtigen Bestandteil der politischen Reform in den Plan für die politische Umstrukturierung des Landes aufzunehmen. Andererseits müssten alle Reformmaßnahmen substanziell anstatt rein technisch sein, erst dann könnten Erfolge und Durchbrüche erzielt werden.

Hes Vorschläge sind von der Zentralregierung übernommen worden. Ende 2002 bezog die Zentralregierung offiziell die Justizreform in ihren Plan für die politische Reform ein.

Seit 2003 ist die Justizreform energisch beschleunigt worden. Im Mai vorigen Jahres berief die Zentralregierung eine Sonderkonferenz über diese Frage ein. Im selben Monat organisierte das Komitee für Politische und Rechtliche Angelegenheiten beim ZK der KP Chinas, das höchste Justizorgan innerhalb der Partei, eine Diskussion von Experten und verkündete die Gründung einer nationalen Führungsgruppe für die Justizreform unter der Leitung von Luo Gan, Mitglied des Ständigen Ausschusses des Politbüros des ZK der KP Chinas und Sekretär des Komitees für Politischen und Rechtliche Angelegenheiten, um die Justizreform im ganzen Land anzuleiten.

Auf einer nationalen Konferenz über politische und rechtliche Angelegenheiten im Jahre 2003 rief Luo Gan auf, die Justizreform aktiv voranzutreiben. Kurz nach dieser Konferenz begann die nationale Führungsgruppe ihre Arbeit. Die Justizreform stand eine Zeit lang im Brennpunkt des allgemeinen Interesses.

Die Justizreform habe zwar Fortschritte gemacht, aber lasse noch viel zu wünschen übrig. Fu Yonglin, Professor der Südwestchinesischen Hochschule für Transportwesen, sagt weiter, die Justizreform ziele auf die gesellschaftliche Entwicklung ab und stelle einen wichtigen Bestandteil der Reform Chinas dar. Wenn sie stagniere, werde sie den ganzen Reformprozess Chinas beeinträchtigen.

Professor Fu ist der Ansicht, dass die Justizreform und die anderen Reformen miteinander koordiniert und als Ganzes vorangetrieben werden müssten. "Dies ist eine Voraussetzung für die Beschleunigung des Reformprozesses", so Fu.

Einigen Medien zufolge wird ein Plan zur Einrichtung einiger überregionaler Gerichte im ganzen Land wahrscheinlich von der Regierung angenommen werden. Nach diesem Plan werden landesweit sieben überregionale Gerichte als Vertretungen des Obersten Volksgerichtshofes eingerichtet, um zivilrechtliche und wirtschaftsrechtliche Fälle in dritter Instanz zu verhandeln, wenn Gerichtsverhandlungen in der ersten und zweiten Instanz von administrativer Einflussnahme betroffen sind. Ziel dieser Maßnahme ist, die Unabhängigkeit der Gerichtsverhandlung zu gewährleisten. In akademischen Kreisen herrscht allerdings noch Meinungsverschiedenheit über diesen Plan.

(Beijing Rundschau/China.org.cn, 26. Oktober 2004)