Wie würde die Welt aussehen, wenn es keine Übersetzer gäbe? – Ein Interview mit der Vorsitzenden der FIT, Frau Betty Cohen

Auf Einladung der Chinesischen Vereinigung der Übersetzer und Dolmetscher haben Frau Betty Cohen, die Vorsitzende des Internationalen Bundes für Übersetzer und Dolmetscher (FIT = Fédération Internationale des Traducteurs) sowie die meisten Mitglieder des Vorstandes der FIT, China im Oktober und November einen Besuch abgestattet. Sie nehmen an der 5. Konferenz der Chinesischen Vereinigung der Übersetzer und Dolmetscher teil und werden eine Ausstellung zu den Erfolgen der Übersetzungsarbeit in China besichtigen. Frau Betty Cohen hat dem CIIC bei dieser Gelegenheit ein Interview gegeben.

CIIC:Wir bedanken uns herzlich bei Ihnen, dass Sie sich trotz Ihres anstrengenden Programms Zeit genommen haben, uns ein Interview zu geben. Könnten Sie uns das kurzfristige Arbeitsziel der FIT vorstellen?

Betty Cohen:Zuerst möchte ich darauf aufmerksam machen, dass die FIT nur Organisationen als Mitglieder aufnimmt. Wir haben zurzeit insgesamt 150 Mitglieder aus 60 Ländern. Die FIT nimmt keine privaten Mitglieder auf. Die Weltkonferenz der FIT findet alle zwei Jahre statt. Die nächste wird im August 2005 in Finnland veranstaltet werden.

Ausgehend von den praktischen Problemen mit denen wir konfrontiert sind, beschäftigt sich die FIT gegenwärtig mit dem Entwurf einer "Arbeitsanweisung für Übersetzer und Dolmetscher", die an alle Mitglieder verteilt werden wird. Der Inhalt dieser Arbeitsanweisung umfasst die Ausbildung der Übersetzer und Dolmetscher, Übersetzungsmittel, Kriterien für die Arbeitsqualität usw. Im Moment ist es so, dass meist nur die großen Mitglieder die Fähigkeit besitzen, mit den oben genannten Problemen umzugehen. Aber die kleinen Mitglieder wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Wir möchten die erfolgreichen Erfahrungen der großen Mitglieder zusammenfassen und sie den kleinen Mitgliedern empfehlen. Diese Arbeitsanweisung ist allgemein angelegt, da die Gesetze in den jeweiligen Ländern sehr unterschiedlich sind. Ich hoffe, dass diese Arbeitsanweisung auf der Konferenz in Finnland Zustimmung bekommen wird.

CIIC:Bedeutet der stürmische Globalisierungsprozess für die Übersetzer und Dolmetscher der ganzen Welt eine Chance oder eher eine Herausforderung?

Betty Cohen:Bestimmt eine Chance! Dank des Globalisierungsprozesses wächst die Tätigkeit der Dolmetscher auf der ganzen Welt und der Bedarf an Dolmetschern erhöht sich ständig! Das Volumen der Übersetzungstätigkeiten und die Anzahl der Quell- und Zielsprachen vermehrt sich auch zunehmend. Deshalb kann man davon ausgehen, dass der Einfluss der Globalisierung auf Übersetzer und Dolmetscher positiv ist.

Die Herausforderung liegt darin, wie wir die täglich wachsende Nachfrage unserer Kunden decken können. Vor allem müssen wir noch mehr Übersetzer und Dolmetscher ausbilden. Herr Huang Youyi (Vorstandsmitglied der FIT, Vizevorsitzender und Chefsekretär der Chinesischen Vereinigung der Übersetzer und Dolmetscher und Vizedirektor der China International Publishing Gruppe) hat mir einmal folgendes gesagt: In Beijing werden im Jahre 2008 die Olympischen Spiele stattfinden und das stellt eine Herausforderung an Übersetzer und Dolmetscher. Andere Länder und Regionen stoßen auf ähnliche Probleme. Deshalb kann man sagen, der Globalisierungsprozess ist eine Herausforderung, die wir annehmen müssen.

Natürlich sollten wir ein anderes Problem nicht übersehen, nämlich die Herausforderung der Qualität in der Übersetzungstätigkeit. Auch wenn die Aufgabe schwer und der Bedarf groß ist, müssen wir Qualität garantieren. Das bedeutet an sich schon eine harte Herausforderung. Es ist bekannt, dass Fehler in Übersetzungen Katastrophen verursachen können. Z.B. kann ein Fehler in einer Gebrauchsanweisung für irgendein elektrisches Gerät dazu führen, dass der Verbraucher einen elektrischen Schlag bekommt. Deshalb vertreten wir die Meinung, dass nicht jeder die Fähigkeit hat, als Übersetzer und Dolmetscher zu arbeiten. Als Übersetzer und Dolmetscher muss man einerseits eine Fremdsprache beherrschen und andererseits auch reichliche fachliche Kenntnisse besitzen. Die Zielsetzung der Arbeitsanweisung, die FIT momentan entwirft, liegt gerade auch in der Verbesserung der Qualität der Übersetzer und Dolmetscher. Mit der Arbeitsanweisung sollen alle mit den Veränderungen und Herausforderungen besser zurechtkommen.

CIIC:Warum hat die FIT "Mehrsprachigkeit und kulturelle Vielfalt" als Motto für den internationalen Tag der Übersetzer und Dolmetscher in diesem Jahr gewählt?

Betty Cohen:Das geht auf eine Erklärung zur kulturelle Vielfalt der UNESCO zurück. Es ist, glaube ich, allgemein bekannt, dass wir enge Beziehungen zur UNESCO haben. FIT ist Berater der UNESCO. Das Motto unterstreicht, dass Übersetzungsarbeit ein Angelpunkt für den Austausch zwischen den Menschen ist und dazu beiträgt die Unterschiede der Kulturen zu bewahren. Der Einfluss der amerikanischen Kultur ist jetzt allgegenwärtig. Deshalb müssen wir besonders darauf achten, die eigene kulturelle Identität nicht zu verlieren! Durch die Mitwirkung von Übersetzern und Dolmetschern können sich die Leute miteinander verständigen, ihre Wirtschaft fördern und zugleich die eigene Kultur beibehalten. Wir Übersetzer und Dolmetscher sind sozusagen Verbindung und Brücke.

CIIC:
Was halten Sie von der Tätigkeit der Übersetzer und Dolmetscher in Entwicklungsländern – und vor allem in Entwicklungsländern mit Sprachen, die nur von wenigen Leuten gesprochen werden?

Betty Cohen:Es ist bedauernswert, dass wir sehr wenige Mitglieder aus Entwicklungsländern haben. Der Grund liegt wohl darin, dass sie sich die Gebühren der FIT nicht leisten können. Unser einziges afrikanisches Mitglied ist z.B. aus Südafrika. Aber wir werden unser Bestes tun, solchen Ländern finanzielle Unterstützung zu gewähren. Eines der Ziele der FIT ist jedem Land zu helfen, seinen eigenen Verband für Übersetzer und Dolmetscher zu gründen. Zurzeit haben viele Entwicklungsländer noch keine solche Organisation.

CIIC:Im August 1987 hat die Chinesische Vereinigung der Übersetzer und Dolmetscher zum ersten Mal eine Delegation zur Weltkonferenz der FIT geschickt und ist dann auch Mitglied der FIT geworden. Wie beurteilen Sie die Arbeit der Chinesischen Vereinigung der Übersetzer und Dolmetscher und ihre Mitwirkung in der FIT?

Betty Cohen:Die Chinesische Vereinigung der Übersetzer und Dolmetscher hat uns tief beeindruckt. Sie hat uns geholfen, ein regionales Zentrum der FIT zu errichten. In den letzten Jahren ist die Chinesische Vereinigung der Übersetzer und Dolmetscher in der FIT immer aktiver geworden. Diesmal folgen wir ihrer Einladung, China zu besuchen. Ich glaube, das hängt auch eng mit der raschen wirtschaftlichen Entwicklung Chinas zusammen.

CIIC:Hat China eine Chance, die Weltkonferenz der FIT 2008 auszurichten?

Betty Cohen:China hat eine Chance. Aber selbstverständlich hat China Konkurrenten. Wenn diese Konferenz in China stattfinden wird, ist das das erste Mal, dass eine Konferenz in Asien veranstaltet wird. Das ist wohl der Vorteil Chinas unter allen Bewerbern. Der Vorstand wird viele unterschiedliche Faktoren abwägen und zum Schluss eine Entscheidung treffen.

CIIC:Wie wir wissen, sind Sie selbst auch eine erfahrene Fachdolmetscherin. Deshalb möchten wir noch ein paar Fragen stellen, die mit dem Fach Übersetzen zu tun haben. An vielen chinesischen Universitäten herrscht die Tendenz vor, im Unterricht und bei der Forschung mehr Wert auf die Theorie zu legen, während die Praxis unterschätzt wird. Was halten Sie davon?

Betty Cohen:Meiner Meinung nach stoßen sich Theorie und Praxis nicht ab. Jede wissenschaftliche Ausbildung muss beides berücksichtigen. Natürlich muss die Theorie auch repräsentiert werden, weil der Studiengang an einer Universität fachliche Elemente beinhalten soll. Zugleich müssen wir in so einem praxisorientierten Feld auch praktische Fähigkeiten, die wir in der alltäglichen Arbeit benötigen, erwerben, genauso wie ein Rechtsanwalt oder ein Buchhalter. Die Studenten sollten zwischen praxisorientiertem und theorieorientiertem Unterricht frei wählen. Die Studenten, die sich für die Theorie entschieden haben, können nach dem Abschluss Hochschullehrer oder Forscher für die Theorie werden. Die Studenten, die sich eher an der Praxis orientieren, können einen Beruf als Übersetzer oder Dolmetscher ausüben.

CIIC:Die maschinelle Übersetzung wird immer beliebter. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung? Wird maschinelle Übersetzung eines Tages die Übersetzer und Dolmetscher völlig ersetzen?

Betty Cohen:
In absehbarer Zukunft besteht diese Möglichkeit nicht. Die maschinelle Übersetzung ist dennoch sehr nützlich. Aber ihre Anwendungsbereiche beschränken sich hauptsächlich auf technische Übersetzungen.

Meines Erachtens bildet maschinelle Übersetzung keine Bedrohung für die menschliche Übersetzung. Im Gegenteil, sie kann die Effizienz der menschlichen Übersetzung steigern. Außerdem hilft sie dabei, die irrationale Einkommenskluft zwischen Übersetzern und anderen Berufen zu vermindern.

Ich möchte gerne mit zwei Metaphern unser Gespräch beenden. Wir Übersetzer und Dolmetscher sind wie Strom im Kabel oder Wasser in der Leitung – wir übersetzen und dann verschwinden wir unauffällig. Durch unsere Tätigkeit transportieren wir Dinge von einer Kultur zur anderen. Und damit die andere Kultur nicht merkt, dass es eine Übersetzung ist, müssen wir es unsichtbar machen.

Stellen sich mal vor, wie die Welt aussehen würde ohne Übersetzer und Dolmetscher – wenn alle Übersetzer und Dolmetscher an einem Tag ihre Arbeit niederlegten? Dann würden die Vereinten Nationen nicht mehr existieren, und die WTO auch nicht. Alle internationalen Organisationen würden zum Stillstand kommen! Diese Welt kann ohne uns nicht funktionieren! Die Übersetzungsarbeit spielt heutzutage eine immer wichtigere und unersetzbarere Rolle. Die Globalisierung benötigt Übersetzer, die kulturelle Vielfalt benötigt Übersetzer. Die Arbeit von Übersetzern und Dolmetschern sollten mehr Anerkennung bekommen und besser bezahlt werden.

(China.org.cn, 4. November 2004)